Flora Incognita – Entwicklung einer teilautomatischen Pflanzenbestimmung – Flora Incognita

Artenkenntnis in der Bevölkerung nimmt dramatisch ab

Immer weniger Menschen können heute eine größere Zahl von Arten sicher erkennen und ihr Vorkommen in einen ökologischen Zusammenhang stellen – besonders krautige Pflanzen sind für Laien schwer zu unterscheiden. Für das ungeübte Auge bilden Pflanzen eine einheitliche grüne Masse. Selbst eine „Blumenwiese“ wird von vielen Menschen nur als „Gras“ wahrgenommen. Aber auch für ausgebildete Biolog:innen stellt die genaue Pflanzenbestimmung oft eine große Hürde dar.

Diese Entwicklung ist für Naturschutz und Landnutzung prekär. Denn mit schwindenden Kenntnissen über Tiere, Pflanzen und ökologische Zusammenhänge nimmt auch die Bereitschaft in der Bevölkerung ab, sich für Natur- und Umweltschutzbelange einzusetzen. Wie soll man für den Schutz der Artenvielfalt werben, wenn diese der Bevölkerung praktisch nicht vorhanden ist? Die Basis für Schutz-, Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen ist eine fortlaufende Inventarisierung von Flora und Fauna. Wie soll diese sichergestellt werden, wenn die Zahl der versierten Artenkenner:innen kontinuierlich sinkt?

Zunahme digitaler Medien und künstlicher Intelligenz im Alltag vieler Menschen

In der Bevölkerung und insbesondere bei Kindern und Jugendlichen steigt seit Jahren das Interesse für digitale Medien. Diese sind aus dem Leben vieler Menschen nicht mehr wegzudenken. Seit der Einführung von Apples iPhone im Jahr 2007 sind Smartphones für viele Anwender:innen ständige Begleiter und ein unverzichtbares Hilfsmittel geworden. Gleichzeitig verzeichnen wir eine rasante technische Entwicklung im Bereich des maschinellen Lernens und der künstlichen Intelligenz. Diese technischen Entwicklungen beeinflussen bereits heute schon unsere Art zu Lernen und sich Wissen anzueignen.

Ist es möglich die klassiche Pflanzenbestimmung in das digitale Zeitalter zu überführen?

Künstliche Intelligenz

Künstliche Intelligenz beschreibt die Fähigkeit von Maschinen, basierend auf Algorithmen Aufgaben autonom auszuführen. Diese Fähigkeit kann auf programmierten Abläufen beruhen oder durch maschinelles Lernen (ML) erzeugt werden. Bei maschinellen Lernverfahren lernt ein Algorithmus durch Wiederholung selbstständig eine Aufgabe zu erfüllen.

Im Rahmen des Flora-Incognita-Projekt haben Computerwissenschaftler:innen tieflernende künstliche neuronale Netze (sogenannte Convolutional Neural Networks) trainiert, deren Aufbau und Funktionsweise von Wirbeltiergehirnen inspiriert sind. Ein künstliches neuronales Netz besteht aus verschiedenen Knoten (Neuronen). Sie nehmen Informationen von anderen Neuronen oder von außen auf, modifizieren sie und geben anschließend ein Ergebnis an das nächste Neuron weiter. Diese Neuronen sind in mehreren Schichten in einem Netzwerk angeordnet: der Eingabe- und Ausgabeschicht, und dazwischenliegenden „verborgenen Schichten“, den Hidden Layers. Rohdaten werden von Neuronen in der Eingabeschicht erfasst und an die nächste tiefer liegende Schicht weitergegeben. Modernste tieflernende Netzwerke erlauben es, eine Vielzahl von “Hidden Layers” effizient zu trainieren und damit die Leistungsfähigkeit des Netzwerkes dramatisch zu steigern.

Vergleich zwischen biologischen und künstlichen Neuronen und neuronalen Netzen

Für eine künstliche Intelligenz besteht eine Pflanze aus charakteristischen Ecken, Kanten, Flächen und Mustern.

Pflanzenbestimmung mit künstlicher Intelligenz

Für die Pflanzenbestimmung liefern Millionen von Pflanzenbildern mit dazugehörigen Artnamen diese Rohdaten. Das Netzwerk „lernt“ zunächst einfache Konzepte wie Ecken und Kanten zu erkennen, und steigert diese Komplexität im weiteren Verlauf über Flächen, Muster, bis sich in der Nähe der Ausgabeschicht aus diesen Bestandteilen Blüten oder Blätter zusammensetzen. Durch die Verwendung von diesen tieflernenden künstlichen neuronalen Netzen kommt Flora Incognita ohne handgefertigte Schritte zur Erkennung und Extraktion von Pflanzenmerkmalen aus. Welche Konzepte relevant sind, um Pflanzen zu klassifizieren, lernt das Netzwerk in einem ausgedehnten und komplexen Trainingsprozess selbstständig.

Dafür wird unter anderem eine große Menge repräsentativer und zuverlässiger Trainingsdaten benötigt. Trainingsdaten wurden im Rahmen eines gross angelegten Citizen-Science-Projektes mit der Flora Capture App zusammengetragen. Basierend auf diesen Bildern wurden für die Flora-Incognita-App vielfältigste Architekturen tieflernender, neuronaler Netze bewertet und eine hierarchische Struktur aus mehreren solcher Netze entworfen.

Wissenschaftlich-technische Innovation

Um die Flora-Incognita-App zu einer Anwendung zu bringen, die von sehr vielen verschiedenen Menschen das ganze Jahr über verlässlich verwendet werden kann, sah sich das Forschungsteam mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert:

In Deutschland allein gibt es knapp 5000 Wildpflanzenarten. Für alle brauchte es Trainingsdaten.
Einzelne Individuen der gleichen Art können sich je nach Standort morphologisch stark unterscheiden (große Intra-Klassen-Variabilität).
Völlig verschiedene Arten können sich sehr ähnlich sehen (geringe Inter-Klassen-Variabilität).
Pflanzen werden zu unterschiedlichen Bildaufnahmebedingungen in der Natur aufgenommen (z.B. Tageszeit, Jahreszeit, Artengemeinschaften).
Die Gewohnheiten unterschiedlicher Nutzer:innen (z.B. Detail- vs. Überblicksaufnahme) mussten berücksichtigt werden.
Verschiedene Endgeräte haben sehr spezifische technische Eigenschaften (z.B. Betriebssystem, Kameraauflösung und Bildqualität).

Fünf verschiedene Rannunculus Arten die eine Künstliche Intelligenz unterscheiden lernen muss.

Die Adressierung dieser Herausforderungen hat zu mehreren innovativen Ansätzen sowohl in der Informatik als auch in der Botanik geführt, welcher in ihrer Kombination in der Flora Incognita App einzigartig sind:

die systematische und artengruppenspezifische Definition und Evaluierung komplementärer Bildperspektiven (Rzanny et al., 2017; Rzanny et al., 2019; Rzanny et al., 2022)
die Nutzung vielfältigster, komplementärer Standortinformationen und deren Auswertung bezüglich der Habitateignung für alle unterstützten Pflanzenarten (Wittich et al., 2018)
die Entwicklung eines situationsadaptiven Bestimmungsprozesses, welcher in Abhängigkeit der aktuellen Bestimmungssicherheit spezifische, weitere Informationen anfordert
die systematische Entwicklung einer neuen Netzwerkarchitektur zur gleichzeitigen Analyse mehrere Perspektiven (Seeland und Mäder, 2021) und
die gezielte Erhebung eines reichhaltigen und für vielfältige Aufnahmesituationen repräsentativen Sets von Trainingsdaten (Boho et al. 2020)

Die Flora Incognita App – mehr als ein Prototyp

Die im Rahmen des Projektes entwickelte App „Flora Incognita“ zeigt eindrücklich, wie einfach heute Pflanzenbestimmung sein kann. Mit der Kamera des Smartphones fotografieren Sie die Blüte, gegebenenfalls noch das Blatt, und in Sekundenschnelle erhalten Sie einen Vorschlag zum Namen der Pflanze sowie weiterführende Informationen. Die App erlaubt somit die leichte und sichere Pflanzenbestimmung für Menschen jeden Alters und jeden Grades an Vorwissen.

Die Flora Incognita App wurde bereits während des laufenden Forschungsprojektes veröffentlicht und ist seit Frühjahr 2018 sowohl bei Google Play, dem Apple AppStore und in der Huawai AppGallery öffentlich verfügbar. Bis zu Projektende 2019 verzeichnete die App bereits 2 Millionen Installationen. Nicht nur Laien verwenden Flora Incognita, auch in botanischen Fachkreisen wird die App äußerst positiv bewertet und empfohlen. Nach Einschätzung von Expert:innen des Bundesamts für Naturschutz (BfN) hat die Flora Incognita App das Potential, das verbreitetste Werkzeuge zur Bestimmung und Kartierung der deutschen Flora zu werden. Auch Schulen, Universitäten und andern Bildungseinrichtungen setzen Flora Incognita bereits erfolgreich zu Lehrzwecken ein.

Im Forschungsprojekt „Flora Incognita ++“ werden nun mit den Daten der Flora Incognita App viele weitere Fragestellungen untersucht: Wann blühen welche Arten? Wie stark variieren die Eigenschaften einer Pflanzenart? Welche Zusammenhänge gibt es zum Klimawandel und der Art der Landnutzung?

Mehr Informationen zum Folgeprojekt finden Sie auf der Webseite:

Flora Incognita++ Bürger:innen erfassen die Pflanzenvielfalt

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Wer macht das möglich?

Das Flora Incognita Projekt war ein gemeinsames Projekt der Technischen Universität Ilmenau und des Max-Planck-Instituts für Biogeochemie Jena. Es wurde von 2014 bis 2020 durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, und von 2014 bis 2019 durch das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit sowie durch die Stiftung Naturschutz Thüringen finanziert. Das Flora Incognita Projekt war ein Forschungsvorhaben zur Umsetzung der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt. Seit 2019 bearbeiten die Partner das Anschlussvorhaben Flora Incognita++.