Jana Wäldchen und ihr Team vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie haben maßgeblich an der App Flora Incognita mitgearbeitet, die Pflanzenbestimmung wesentlich vereinfacht. Wir sprachen mit ihr, wie Artenkenntnis zur Artenvielfalt beiträgt, welche Pflanzenarten besonders bedroht sind und wie gebietsfremde Spezies einheimische Arten verdrängen.
Welche Rolle spielen Citizen-Science-Projekte wie Flora Incognita beim Schutz der Artenvielfalt?
Projekte mit Bürgerbeteiligung wie Flora Incognita erfüllen zwei wichtige Rollen. Zum einen vereinfachen sie den Bestimmungsprozess. Interessierte können nun einfach, schnell und ziemlich genau einer unbekannten Pflanze einen Namen geben. Dadurch wird die pflanzliche Vielfalt besser wahrgenommen und die Menschen werden für die Natur und deren Schutzbedürftigkeit sensibilisiert.
Eine weitere wichtige Rolle spielt natürlich auch die Dokumentation der Pflanzenvielfalt. So profitieren auch die Wissenschaft und der behördliche Naturschutz von der App: Durch die Speicherung der erkannten Arten und ihrer Standorte entstehen äußerst wertvolle Datensätze, mit denen Fragen des Artenschutzes und der Biodiversität erforscht werden können. Langfristig ermöglichen die Daten der Flora Incognita-App neue Erkenntnisse zum Beispiel zu den Fragen: Wann und wo blühen welche Arten? Wie stark variieren die Eigenschaften einer Pflanzenart? Wie verändern sich die Zusammensetzung und Standorte der Pflanzen im Zusammenhang mit dem Klimawandel und der Art der Landnutzung?
Die App Flora Incognita existiert schon seit zwei Jahren. Was hat sich seitdem verändert?
Das Ziel des Projektes ist, die Pflanzenbestimmung zu vereinfachen und so für viele Menschen die Wahrnehmung der pflanzlichen Vielfalt zu stärken. In zahlreichen E-Mails und Kommentaren von Nutzerinnen und Nutzern sehen wir, dass wir auf einen guten Weg sind, dieses Ziel zu erreichen. Wir bekommen nicht nur das Feedback, wie gut die Erkennung ist. Viele Menschen schreiben auch, dass die einfache Bestimmung ihnen den Blick auf die Artenvielfalt erweitert hat.
Kommentare wie „Endlich gehen wir nicht mehr ‚blind‘ durch den Wald!“ oder „Damit kann man spielerisch der Umwelt näherkommen“ zeigen, dass mit der App ein wesentlicher Beitrag geleistet wird, die pflanzliche Diversität bewusst zu machen. Wir sind sehr froh, dass wir dieses Ziel erreicht haben. Artenkenntnis ist eine wichtige Voraussetzung für den Artenschutz, denn nur was man kennt, möchte man auch bewahren.
Wie erleichtert die App die Pflanzenbestimmung?
Wer von uns kennt die Situation nicht? Beim Wandern entdecken Sie eine Pflanze, über die Sie gern mehr erfahren würden. Wie heißt die Pflanze, ist sie giftig oder steht sie womöglich unter Naturschutz? Herkömmliche Bestimmungsschlüssel sind für Laien sehr komplex, die Bestimmung der Pflanzen ist zeitintensiv und durch die Verwendung zahlreicher Fachbegriffe meist schwierig. Dadurch entsteht eine große Hürde für Interessierte, Pflanzen zu bestimmen und mehr über sie zu erfahren.
Bildbände haben die Bestimmung für die häufigsten Arten erleichtert, jedoch haben wir diese nicht immer dabei oder sie bilden nur einen Teil der Pflanzenvielfalt ab. Mit der von uns entwickelten Flora Incognita-App ist es nun möglich, einfach, schnell und auch ziemlich genau die Pflanzen zu bestimmen. Mit der Kamera des Smartphones fotografieren Sie die Blüte, dann eventuell noch das Blatt und in Sekundenschnelle erhalten Sie einen Vorschlag zum Namen der Pflanze sowie weiterführende Informationen, wie beispielsweise den lokalen Schutzstatus, wichtige Pflanzenmerkmale, Verbreitungsgebiete oder auch Hinweise zu ähnlichen, leicht zu verwechselnden Arten.
Wie oft wurde die App heruntergeladen? Wie viele Pflanzen wurden damit schon bestimmt?
Die App wurde bereits mehr als eine Million Mal heruntergeladen. Über acht Millionen Bestimmungen wurden schon durchgeführt. Bis heute wurden mit Flora Incognita zirka 4600 verschiedenen Arten bestimmt.
Sind mit Hilfe der App Rückschlüsse auf botanische Vielfalt in bestimmten Ökosystemen möglich?
Die mit der App gesammelten Pflanzenobservationen sind nicht systematisch und geben nur das wieder, was die Nutzerinnen und Nutzer in der Natur sehen und wofür sie sich interessieren. Das heißt: Wir erhalten Informationen darüber, welche Arten in bestimmten Gebieten vorkommen. Wir können jedoch keine Aussage darüber treffen, ob bestimmte Arten nicht vorkommen. So werden häufige und sehr auffällige Arten öfter bestimmt als die seltenen und unauffälligen Arten.
Nichtsdestotrotz können wir nach nur zwei Vegetationsperioden für einige Arten ähnliche Verbreitungsmuster erkennen wie bei der floristischen, deutschlandweiten und systematischen Kartierung. Das zeigt das Potential der App, die floristische Kartierung langfristig zu ergänzen. Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir im Herbst dieses Jahres so viele Observationen gesammelt haben, dass wir detailliertere Aussagen zur Pflanzenvielfalt in verschiedenen Gebieten treffen können.
Was wir jedoch jetzt schon sagen können ist, dass die meisten Bestimmungen im urbanen Raum stattfinden, also in der unmittelbaren Wohnumgebung. Die am häufigsten fotografierten Arten sind Stickstoffzeiger, wie Schafgarbe (Achillea millefolium agg.), Löwenzahn (Taraxacum), Gundermann (Glechoma hederacea agg.) oder die Knoblauchsrauke (Alliaria petiolata), die primär in anthropogen geprägten Habitaten vorkommen. Gleichzeitig sehen wir auch, dass die App oft im Urlaub verwendet wird. So sind die Beobachtungszahlen in Verhältnis zur Einwohnerzahl im Jahr 2019 an der Nord- und Ostsee sowie im Alpenraum höher als in anderen Gebieten.
Welche Pflanzenarten sind besonders bedroht?
In Deutschland sind fast ein Drittel der heimischen Wildpflanzen gefährdet. Das geht aus der Roten Liste der Farn- und Blütenpflanzen, Moose und Algen hervor, die das Bundesamt für Naturschutz im Dezember 2018 vorgestellt hat. So verzeichnen viele Arten aufgrund der intensiven Landwirtschaft einen starken Rückgang, wie zum Beispiel das Flammen-Adonisröschen (Adonis flammea), eine Art, die in Mitteleuropa auf kalkreichen und flachgründigen Getreidefeldern vorkommt. Auch das Rundblättrige Hasenohr (Bupleurum rotundifolium), das ähnliche Ansprüche aufweist, ist vielerorts verschwunden.
Eine weitere besonders bedrohte Artengruppe sind jene, die in naturnahen, insbesondere nährstoffarmen, mageren Standorten vorkommen. Denken wir an die Wiesen-Küchenschelle (Pulsatilla pratensis) und das Katzenpfötchen (Antennaria dioica). Aber auch charakteristische Moorarten wie die Sonnentauarten (Drosea spec.) oder der Fieberklee (Menyanthes trifoliata) sind als gefährdet eingestuft. Für den Rückgang dieser Arten ist der zunehmende Nährstoffeintrag die wesentliche Ursache. Neben den Rote-Liste-Arten gibt es auch Arten, für deren Schutz Deutschland international verantwortlich ist, weil sie entweder nur in Deutschland vorkommen oder in größeren Populationen als im Vergleich zu anderen Ländern. Beispiele sind der Berg-Ahorn (Acer pseudoplatanus) oder auch die Rot-Buche (Fagus sylvatica).
Welche Ökosysteme bedürfen eines besonderen Schutzes?
Wie gesagt, besonders viele vom Aussterben bedrohte oder gefährdete Artengruppen kommen auf nährstoffarmen Standorten wie z. B. Heiden, Magerrasen und Mooren vor. Aber auch artenreiche Mähwiesen, Streuobstwiesen, Flussauen, alpine Rasen oder Küstendünen bedürfen eines besonderen Schutzes.
Welche Neophyten kommen in Deutschland besonders häufig vor?
Neophyten sind Pflanzen, die nach 1492, in ein Gebiet gelangt sind, in dem sie natürlicherweise nicht vorkamen. In Deutschland sind mehr als 400 Neophyten fest etabliert. Davon sind mehr als 50 Arten vom Bundesamt für Naturschutz als invasiv oder potentiell invasiv eingestuft. Viele von uns kennen die weit verbreitete Kanadische Goldrute (Solidago canadensis), das Orientalische Zackenschötchen (Bunias orientalis), den Japanischer Staudenknöterich (Fallopia japonica), den Riesen-Bärenklau (Heracleum mantegazzianum) und das Drüsige Springkraut (Impatiens glandulifera).
Diese sogenannten invasiven, gebietsfremden Arten bereiten sowohl Probleme im Naturschutz als auch wirtschaftliche Schäden z. B. durch die Minderung von Ernten, erhöhten Pestizideinsatz in Land- und Forstwirtschaft oder erhöhte Kosten bei der Instandhaltung von Straßen, Wasser- und Schienenwegen. Der Riesen-Bärenklau und die Beifußblättrige Ambrosie (Ambrosia artemisiifolia) enthalten zudem Stoffe, die Verbrennungen oder Allergien beim Menschen verursachen können.
Invasive Arten gelten weltweit – nach der Zerstörung der Lebensräume – als die zweitgrößte Gefährdung der biologischen Vielfalt. Invasive Arten treten vor allem in Konkurrenz um Lebensraum und Ressourcen mit den einheimischen Arten. Sie können dadurch einzelne einheimische Arten oder auch ganze Artengemeinschaften verdrängen. Ein prominentes Beispiel für die Umgebung rund um unseren Arbeitsort Jena ist das Orientalische Zackenschötchen. Durch seine rasante Ausbreitung verdrängt es die heimischen und seltenen Pflanzenarten der artenreichen Wiesen- und Halbtrockenrasen-Biotope. Früherkennung und schnelle Reaktion sind kritische Prozesse, um die Verbreitung und Etablierung invasiver Arten zu verhindern.
Wie geht es mit der App weiter?
Während wir in den letzten Jahren vor allem an der App und der automatischen Erkennung gearbeitet haben, werden wir im Folgeprojekt Flora Incognita++ vorrangig die Observationsdaten auswerten. Hier bedarf es an Untersuchungen zur automatischen Qualitätssicherung. Zudem wollen wir Aussagen über Blühzeiträume, Verbreitungen oder Koexistenzen treffen können.
Natürlich haben wir auch bei der automatischen Erkennung noch nicht alle unsere Qualitätsansprüche erreicht. Im Folgeprojekt werden wir speziell für bestimmungskritische Artengruppen wie z. B. die Süß- und Sauergräser die Erkennungsalgorithmen verbessern.
Zudem arbeiten wir an unserer dritten App (Flora Key), die einen interaktiven Bestimmungsschlüssel beinhaltet und eine manuelle Bestimmung anhand morphologischer Eigenschaften der Pflanze erlaubt. Dieser Bestimmungsschlüssel wird zudem auch in die Flora Incognita-App integriert werden.
Das Flora Incognita-Projekt wird gemeinsam durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das Bundesamt für Naturschutz und Thüringer Ministerium für Umwelt, Energie und Naturschutz gefördert und wird weiterhin wie bisher einen umsetzungsorientieren Ansatz verfolgen. Die Brücke zu schlagen zwischen Wissenschaft, Bevölkerung und Behörden ist und bleibt ein wichtiges Ziel unserer Forschungsgruppe.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Interview: Barbara Abrell (Max-Planck-Gesellschaft)