Fichte ist nicht gleich Fichte: Der spannende Fall der „Hochlagentypen“ in unseren Mittelgebirgen
Botanischer Steckbrief der Fichte
Die Gemeine Fichte (Picea abies), aufgrund ihrer Rindenfärbung manchmal auch Rotfichte genannt, ist eine der dominierenden Baumarten in den Mittel- und Hochlagen unserer Gebirge und eine wichtige Grundlage der forstlichen Wertschöpfung. Auch wenn diese Baumart in tieferen Lagen durch die Trockenheit der letzten Jahre stark zurückgegangen ist, wird sie im niederschlagsreichen Bergland weiterhin eine wichtige wirtschaftliche Rolle spielen. Die Fichte ist eingeschlechtig und windbestäubt und weist innerhalb ihres Verbreitungsgebietes in Europa und Asien eine sehr hohe morphologische Variabilität auf. Die im deutschen Bergland vorkommende heimische (autochthone) Fichte P. abies subsp. oder var. alpestris unterscheidet sich durch ihre schmalere und zylindrischere Krone deutlich von den Fichten tieferer Lagen.

Aktueller Blick vom Finsterberger Köpfchen (875 m ü NN) auf den noch von Fichten dominierten Nordrand des Thüringer Waldes. Foto: Dr. Kevin Karbstein (24.08.2024)
Schadereignisse und Waldumbau
Die „Hochlagenfichten“ wurden vor allem im 19. und 20. Jahrhundert durch Rodung, Sturm und Borkenkäferbefall stark reduziert, wie das Bild zeigt. Die Pflanzung von standortfremden „Tieflagenfichten“ nach diesen Ereignissen verstärkte die Verdrängung der Hochlagentypen durch genetische Vermischung der nachfolgenden Generationen. Viele Bestände sind bereits erloschen oder vom Aussterben bedroht, wie beispielsweise die über >250 Jahre alten „Oberhofer Schloßbergfichten“ in Thüringen, die im Titelbild dieses Artikels zu sehen sind. In den letzten Jahren setzte sich die Erkenntnis durch, dass nur durch einen naturnahen Waldumbau im Gebirge den Nachteilen nicht angepasster Fichtenbestände durch Schneebruch, Sturmschäden und Schädlinge entgegengewirkt werden kann. Diese Schäden sind vermutlich auf den instabileren Wuchs und die wind- und nebelfrostempfindliche, ausladende Krone der Tieflagenfichten zurückzuführen.

Kahlflächen in den Hochlagen des Thüringer Waldes nach Räumung des Schadholzes (1949). Aus: Schreiber et al. (1996)
Forschung
Bisher erschwerte das Fehlen einer Übersicht leicht zugänglicher Merkmale (z. B. Phänologie, Kronenarchitektur oder Zapfen) die Ansprache und damit die Förderung bzw. Entnahme beider Fichtentypen. In einer kürzlich erschienenen Studie von Dr. Kevin Karbstein und Mitarbeiter:innen hauptsächlich von ThüringenForst wurden die Ergebnisse aus über 70 Jahren Hochlagenfichtenforschung zusammengefasst, bewertet und hinsichtlich ihrer Eignung für die forstliche Praxis und den zukünftigen Waldumbau diskutiert.

Praxisrelevante Merkmale zur Unterscheidung von Hoch- und Tieflagenfichtenbeständen am Beispiel der Oberhofer Schloßbergfichten. Foto: Karina Kahlert (14.03.2016), bearbeitet von Dr. Kevin Karbstein und Anke Bebber mit Informationen aus Apel et al. (1965)
Wuchsform „Hochlagenfichte“
Innerhalb eines jungen Bestandes (<30-40 Jahre) zeichnen sich Hochlagenfichten durch einen früheren und schnelleren Austrieb, einen gedrungenen, kugeligen Wuchs mit teilweise starker Verzweigung, und insgesamt einer geringeren Gesamthöhe aus. Die Höhenunterschiede zwischen wenige Jahre alten Hoch- und Tieflagenfichten können erheblich sein (ca. 20 vs. 35-40cm). Der bei jungen Hochlagenfichten oft fehlende zweite Jahrestrieb (August- oder Johannistrieb genannt) wurde mehrfach erfolgreich als Höhenlagentest eingesetzt. Diese Anpassungen sind vermutlich die Ursache für die geringere Wuchsleistung von Hoch- im Vergleich zu Tieflagenfichten in unseren Mittelgebirgen. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal beider Wuchsformen ist die Anzahl der Bänder der Spaltöffnungen an der Unterseite der Nadeln, wie hier im Bild gezeigt.

Unterschiede in den Spaltöffnungen (Stomata) des Nadelblattes. Die Hochlagentypen haben durchschnittlicher weniger Bänder und Spaltöffnungen. Foto Stomata (29/30.10.2015) und Fichte (27.10.2015) im Hintergrund: Dr. Kevin Karbstein.
Krone und Zapfen
Hochlagenfichten zeigen außerdem mit zunehmendem Baumalter eine bürsten- bis plattenartige Kronenverzweigung mit schmaler, walzenförmiger Krone, kürzeren Seitenästen, geringerem Kronendurchmesser, dichter sitzenden Nadeln und verkehrt eiförmigen Zapfenschuppenkörper (obovata-Typ) mit breit abgerundeter Spitze. Die in der forstlichen Praxis häufig angewandte Kronenverzweigung ist erst nach ca. 75 Jahren Entwicklungszeit sicher ansprechbar. Die Kronenmerkmale der Hochlagenfichten bedingen vermutlich eine höhere Bruchfestigkeit gegenüber Sturm und Nebelfrost.

Fichte im Hintergrund: ezp via Getty Images; Foto Zapfenschuppen: Greger, O. (1992): Erfassung von Relikten des autochthonen Fichtenvorkommens im Hochharz. Aus dem Walde 44: S. 1–319, bearbeitet von Anke Bebber
Fichten-Genetik und Waldumbau
Insgesamt ist bei der Unterscheidung von Hoch- und Tieflagenfichten zu beachten, dass die morphologischen Unterschiede wahrscheinlich nur durch sehr wenige DNA-Unterschiede und vor allem durch umweltabhängige Veränderungen außerhalb der DNA (epigenetisch) erzeugt werden. Die erwähnten morphologischen Unterschiede treten aufgrund häufigen genetischen Austausches oft nur graduell auf, was deren Ansprache erschwert. Die Studien deuten außerdem darauf hin, dass je nach Umweltbedingungen immer wieder eine bestimmte Variante aus dem regionalen Genpool selektiert wurde. Die Schadereignisse des 20. Jahrhunderts mit der Einbringung gebietsfremder Tieflagenfichten in Gebirgslagen haben dieses Gleichgewicht gestört. Durch die Wiedereinbringung angepasster Fichtengenotypen können die Mischwälder der Berglagen wieder stabilisiert und für die Zukunft gestärkt werden.

Balkendiagramme der Genotypenfrequenz (z.B. A/A) an zwei Stellen des Gigantea Gens (a GI6- 1089, b GI6-1207) für den (von links nach rechts) plattigen, intermediären (bürstigen) und kammartigen Fichtentyp. N repräsentiert die Stichprobenanzahl. Foto: Caré et al. (2020)
Quellen:
Karbstein et al. (2021). “High-altitude spruces” in Central Europe – a summarizing contribution to phenotypic and (epi)genetic differentiation within Picea abies (L.) H.KARST.
Schreiber, A., Elmer, W. und Erlbeck, G. (1999): Die Orkankatastrophe und Borkenkäferkalamität im Thüringer Wald 1946 bis 1954 – 50 Jahre danach. Mitteilungen des Thüringer Forstvereins e.V., Sonderdruck.
Apel, J. und Hoffmann, J. (1965): Über Vorkommen und Zusammensetzung autochthoner Höhenfichtenbestände und die Bedeutung der Fichtentypen für die Bewirtschaftung der höheren Lagen des Thüringer Waldes. Die sozial. Forstwirtschaft 15: S. 242–246.
Caré, O., Gailing, O., Müller, M., Krutovsky, K. V. und Leinemann, L. (2020): Crown morphology in Norway spruce (Picea abies [KARST.] L.) as adaptation to mountainous environments is associated with single nucleotide polymorphisms (SNPs) in genes regulating seasonal growth rhythm.