Pflanzenbestimmungs-App „Flora Incognita“ mit Thüringer Forschungspreis ausgezeichnet

 

 

Ein Drittel der in Deutschland vorkommenden Pflanzenarten steht als gefährdet auf der Roten Liste. Gleichzeitig sinkt die Anzahl der Menschen mit Artenkenntnis kontinuierlich. Doch wie können wir schützen, was wir nicht kennen? Das Forschungsprojekt Flora Incognita verbindet Smartphones, künstliche Intelligenz und Bürgerbeteiligung in einer App, die interaktiv und automatisch Pflanzen anhand von Bildaufnahmen erkennt. Mit jeder erfolgreichen Anwendung lernt die App dazu und verbessert ihre Erkennungsgenauigkeit. Gleichzeitig entstehen durch die Speicherung der erkannten Arten und Standorte wertvolle Datensätze, um Fragen des Artenschutzes und der Biodiversität zu beantworten. Derzeit nutzen bereits über 1 Mio. Menschen die kostenlose App, von begeisterten Laien bis hin zum Biologie-Professor. Das interdisziplinäre Projektteam vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena und der TU Ilmenau wurde für seine Entwicklung mit dem Thüringer Forschungspreis in der Kategorie Angewandte Forschung geehrt.

Neben dem Klimawandel stellt der Verlust der biologischen Vielfalt eine der größten Bedrohungen für die Menschheit dar. Pflanzen bilden die Grundlage der Nahrungsnetze auf unserer Erde. Verändert sich deren Zusammensetzung, so wird das gesamte Ökosystem mit seinen wichtigen Funktionen für Tiere und Menschen beeinflusst. Eine zentrale Forderung des Artenschutzes liegt daher in der umfassenden Bestandserhebung und Überwachung der pflanzlichen Biodiversität. Doch immer weniger Menschen, selbst akademisch ausgebildete Biologen, können heute eine größere Zahl von Pflanzenarten sicher erkennen und ihr Vorkommen in einen ökologischen Zusammenhang stellen. Wie soll man für den Schutz der Artenvielfalt werben, wenn diese der Bevölkerung praktisch nicht bekannt ist?

„Wir entwickelten hierfür ein Verfahren zur interaktiven, automatischen Pflanzenbestimmung mit einer Smartphone-App“ erklärt die Biologin Dr. Jana Wäldchen, Projektleiterin am Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena. „Denn was lag näher, als unsere botanischen Artenkenntnisse mit den neuesten Technologien des maschinellen Lernens und der ständig wachsenden Verfügbarkeit von mobilen Endgeräten wie Smartphones und Tablets zu kombinieren?“ Mit der Kamera des Smartphones fotografieren die Nutzer*innen die Blüte sowie gegebenenfalls das Blatt der unbekannten Pflanze, und in Sekundenschnelle erhalten sie von der App Informationen über die erkannte Art – nicht nur den Namen, sondern auch weiterführende Informationen.

Schon lange arbeiten Wissenschaftler*innen daran, Pflanzen anhand von Bildern automatisch zu erkennen. Die bisher entwickelten Modelle konnten botanische Merkmale wie z. B. Blatt- und Blütenformen oder Blütenfarbe extrahieren, aber die Auswahl der Merkmale war bereits problematisch. Für eine sichere Bestimmung mussten die Nutzer die entscheidenden Merkmale individuell auswählen, was sich als sehr arbeitsintensiv erwies und Expertenwissen erforderte. Klassifizierungen von mehr als 100 Arten waren kaum möglich.

Es gab lange kein Verfahren, das Pflanzenmerkmale aus einem Bild ohne vom Menschen vorgegebene Mustererkennung selbstständig extrahieren konnte. „In den letzten fünf Jahren haben wir hier durch tieflernende künstliche neuronale Netze (Deep Learning) und im Bereich Bildverarbeitung einen fundamentalen Durchbruch erzielt“, bestätigt der Informatiker Prof. Patrick Mäder (JP), Projektleiter an der TU Ilmenau. Dem Bilderkennungsverfahren der Flora Incognita App liegt ein künstliches neuronales Netzwerk zugrunde. Gefüttert mit mehr als zwei Millionen Pflanzenbildern, erlernte das Netzwerk von Flora Incognita die unterschiedlichen Pflanzenmerkmale von über 4800 Arten. Um Pflanzen möglichst genau zu bestimmen, ermittelt Flora Incognita den Bestimmungsort und gleicht diesen automatisch mit hinterlegten Verbreitungs-, Boden- und Klimadaten ab, was die Trefferquote weiter verbessert. Durch Programmierung eines situationsabhängigen Bestimmungsvorgangs kann die App außerdem, in Abhängigkeit von der ersten Trefferquote, weitere spezifische Informationen oder Bilder anfordern. Welche unterschiedlichen Bildperspektiven für die Bestimmung der Pflanzen am wichtigsten sind, wurde in umfangreichen wissenschaftlichen Studien untersucht.

Die kostenlose und werbefreie Flora Incognita App wurde bereits im Frühjahr 2018 veröffentlicht. Seit ihrem Erscheinen verzeichnet die App mehr als 1 Millionen Installationen und über 8 Millionen erfolgreiche Bestimmungen. Nicht nur Laien verwenden Flora Incognita, auch in botanischen Fachkreisen wird die App äußerst positiv bewertet und empfohlen.

Auch die Wissenschaft profitiert von der App: Durch die Speicherung der erkannten Arten und ihrer Standorte entstehen äußerst wertvolle Datensätze, mit denen Fragen des Artenschutzes und der Biodiversität erforscht werden können. Langfristig ermöglichen die Daten der Flora Incognita App neue Erkenntnisse zum Beispiel zu den Fragen: Wann und wo blühen welche Arten? Wie stark variieren die Eigenschaften einer Pflanzenart? Wie verändern sich die Zusammensetzung und Standorte der Pflanzen im Zusammenhang mit dem Klimawandel und der Art der Landnutzung? Erste Ergebnisse hierzu konnten bereits auf wissenschaftlichen Tagungen vorgestellt werden.

Das mehrfach preisgekrönte Flora-Incognita-Projekt wird von einem interdisziplinären Team von Wissenschaftler*innen aus Biologie, Physik, Medientechnik und Informatik des Max-Planck-Instituts für Biogeochemie und der TU Ilmenau vorangetrieben, das erfolgreich Sonderfinanzierungen einwerben konnte. So wurde das Projekt von 2014 bis 2020 durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit sowie durch die Stiftung Naturschutz Thüringen gefördert. Seit Herbst 2019 bearbeitet das Team das Anschlussvorhaben Flora Incognita++, gefördert durch das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, sowie durch das Thüringer Ministerium für Umwelt, Energie und Naturschutz.

Der Thüringer Forschungspreis wird alljährlich vom Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft (TMWWDG) in den beiden Kategorien Grundlagenforschung und Angewandte Forschung ausgeschrieben. Die Preisverleihung und Gratulation durch Wissenschaftsminister Wolfgang Tiefensee fand dieses Jahr virtuell statt.